Ich lese gerade das Interview der sueddeutsche.de mit Frau Dagmar Schipanski über ihre Entfernung als Wahlfrau aus der Bundesversammlung durch ihre Landtagsfraktion in Thüringen. Sie wird also keine Stimme mehr bei der Wahl des nächsten Bundespräsidenten haben.
Der Grund für diese Aktion ist schon ausreichend hanebüchen, hat sie doch nur verlautbaren lassen, dass sie beide bisher zur Wahl gestellte Kandidaten als tauglich für das Bundespräsidentenamt hält. Die Tatsache, dass sie sich nicht ganz offen gegen den Kandidaten von Rot-Grün, Joachim Gauck, ausgesprochen hat, war wohl Grund genug.
Was mich aber viel mehr an dem Text irritiert, ist der Begriff "Fraktionszwang", denn dieser verstößt (in Deutschland) gegen Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Interessant finde ich besonders den Hinweis im Wikipedia-Eintrag zum Fraktionszwang, dass "[i]nsbesondere bei Gewissensentscheidungen (wie zum Beispiel bezüglich Schwangerschaftsabbruch und der Verlängerung der Verjährungsfrist von NS-Verbrechen) [...] durch die Fraktionsführung in der Regel die Abstimmungen freigegeben [werden] und jeder Abgeordnete [...] seine eigene Entscheidung fällen [muss]."
Dazu fallen mir zwei Dinge ein:
- Muss oder eher darf der/die Abgeordnete bei Abstimmungen, die sein/ihr Gewissen nicht "belasten", keine eigene Entscheidung fällen, überlässt also das Denken und Entscheiden einfach jemand anderem?
- Wenn der Fraktionszwang offiziell und offensichtlich verfassungswidrig ist, warum gehört er dann zum politischen Alltag?
Mir leuchtet schon ein, dass eine Partei, wenn sie ihr Programm durchsetzen will, an einem Strang ziehen muss und dass sich so etwas in einem einheitlichen Verhalten bei Abstimmungen widerspiegelt. Aber genau hier sollte sich doch jede/r Abgeordnete intensiv überlegen, ob er/sie tatsächlich in der richtigen Partei respektive Fraktion ist, wenn er/sie sich immer der Meinung anderer unterwerfen muss, die über ihm/ihr stehen und meinen, den Ton ansagen zu müssen. Die Person, die sich so an Abstimmungen beteiligt, hat ihre Gewissen schon über Bord geworfen. Hier stellt sich die Frage, welche/r Bürger/in sich gerne von einem Gewissenlosen vertreten sehen möchte. Und ebenso sollte sich die Partei als solches Gedanken machen, ob sie ihren Mitgliedern Dinge/Entscheidungen abverlangen kann, die deren Gewissen belasten.
Bei diesen Gedanken sehe ich Demokratie irgendwie nur noch durch ein Teleskop.